Literatur & Wort
Leseprobe aus "Plus Minus Null"
aktualisiert: 05.05.2009
Vorwort von Sonja Ruf (Herausgeberin der Anthologie):
Plus Minus Null. Wir kommen auf die Welt, ohne etwas zu besitzen. Wir lassen uns ausbilden und finden keine Arbeit, und wenn doch, dann wird die Firma im Casino der Börse verzockt. Wir fürchten uns allesamt vor Hartz IV. Wir werden diese Welt verlassen, ohne etwas vererbt zu haben und so billig wie möglich bestattet. Das ist unser Leben. Plus Minus Null.
Ausgelöst wurde dieses Buch durch einen Schock: plötzlich ein "working poor" zu sein, also zwar Arbeit zu haben, davon aber nicht leben zu können. Ich arbeitete für ein Post-Konkurrenzunternehmen und bekam keinen Stundenlohn, sondern ein paar Cent für jeden ausgelieferten Brief. Da ich in weit auseinander liegenden Häusern einzelne Briefe auszutragen hatte, brauchte ich sehr viel Zeit. Im Unterschied zu den "Gelben" hatten wir "Bunten" keine Haustürschlüssel, und die Briefkästen lagen alle im Inneren; an jedem Haus musste geklingelt, gewartet, musste der Unmut der herausgeklingelten Bewohner ertragen werden. Und wofür all das? Für einen Verdienst von etwa zehn Euro pro Tag! Die meisten Austräger bekamen Hartz IV, und die meiste Post kam von Behörden, was bedeutete, dass der Staat den Profit eines privaten Unternehmens und seine eigene Konkurrenz subventionierte. Und das in einem Bereich, der bisher auch ohne diese "working poor" funktioniert hatte und auch weiter funktionieren würde. Was die eine Behörde an Porto sparte, gab die andere für das aufstockende Hartz IV für die Austräger wieder aus.
Jedenfalls war ich gleich dabei, als Edgar Böhm, den ich als Mitautor bei "Casino Rosental" kennen gelernt hatte, die Idee äußerte, ein Buch zu schreiben, das sich mit der literarischen Darstellung solch "moderner", uns verrückt erscheinender Arbeitswelten befasst.
Edgar Böhm steuerte zwei Texte und die Fotos der Graffiti bei. Er engagierte sich darüber hinaus sehr für dieses Buch, so lange er selbst arbeitslos war. Als er eine neue Stelle als Tischler fand, fehlte ihm die Zeit. Mir wurde diese Zeit durch ein Autoren-Stipendium geschenkt.
Übrigens musste Edgar Böhm in der neuen Firma erst einmal für zwei Wochen unbezahlt arbeiten, um übernommen zu werden. Nach 30 Jahren Erfahrung!
Die Ausschreibung für diese Anthologie war denkbar offen formuliert. Die Autoren sollten ein Arbeitsmilieu, das sie selbst kannten, beschreiben, und dort sollte etwas geschehen. Was, blieb ihnen überlassen.
23 Autorinnen und Autoren beteiligen sich an der Anthologie. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass es sich entweder um sogenannte prekäre Arbeitsverhältnisse oder um alternative, heikle Überlebenskonzepte handelt. Von einem Tag auf den anderen kann jeder seinen Unterhalt verlieren, sei er Barmann wie in Anne Bergmanns Geschichte oder im Sicherheitsdienst wie bei Sylvia Dittmers-Gruber.
Um das rare Gut Arbeitsplatz wird vom ersten Tag an konkurriert und gekämpft. Kaum ist jemand eingestellt, so argwöhnen die anderen, es wäre ihr eigener Arbeitsplatz bedroht. Vom ersten Tag an wird der Neue von den Kollegen gemobbt wie in der Geschichte von Karl-Heinz Heydecke, oder mobbt er diese wie in der von Jacqueline Sterzik. Auch Dorothea Bluhm erzählt von einer solchen Angst.
Wer erlebt schon noch eine Gruppe, die miteinander ein möglichst gutes Ergebnis zu erzielen sucht? Und wozu auch? Dieses gute Ergebnis würde ja nicht vor dem Verlust der Arbeit schützen.
In einer globalisierten Welt schützen schwarze Zahlen, gute Produktqualität, Vertrauensschutz, Tradition, Freundschaften innerhalb der Firma -, nichts schützt vor dem Investor, der feindlichen Übernahme durch den Konkurrenten, der die Aktien aufkauft und das ordentlich wirtschaftende Unternehmen, das gute Produkt, vom Markt drängt, um sein eigenes schlechtes Produkt mit großem Werbeaufwand zu platzieren.
Allen Texten gemeinsam ist die ständige Bedrohtheit der eigenen Situation, die Tatsache, dass man sich auf nichts verlassen kann und niemand von sich sagen kann, er habe seine "Lebensstellung" gefunden. Sicher ist bloß, dass es keine Sicherheiten gibt, dass man nie auf der sicheren Seite ist.
Warum ist es nicht möglich, Arbeit besser zu verteilen?
Die einen, wie das Drogistenpaar in den Nachwendezeiten, überarbeiten sich und müssen doch ihre Hilfe entlassen; die anderen haben überhaupt keine Arbeit, fühlen sich zu überflüssigen Menschen erklärt und quälen sich gegenseitig in der Familie, wie in der Geschichte von Reinhild Paarmann so beispielreich ausgeführt.
Christine Kayser schildert, wie eine Frau zwischen ihrer Arbeit und der Fürsorge für ihre Tochter hin und hergerissen ist. Es scheint in unserer Welt immer nur ein Entweder-Oder zu geben. Etwas von dem, was uns als Menschen ausmacht, bleibt auf der Strecke. An einen Ort, die Nähe bestimmter Menschen, sollten wir uns besser mal überhaupt nicht gewöhnen. Der in jeder Hinsicht flexible Mensch, der seiner wechselnden Arbeit immer wieder nachreist, möglichst also kein Haus, kein Kind, keinen Ehepartner und kein Haustier (aber ein Auto und Geld für Bewerbungen und Umzüge) hat, ist der einzige, der dauerhaft "in Arbeit" bleibt. Siehe das Nachwort von Edgar Böhm.
Jede Lösung ist nur eine auf kurze Dauer, und abwärts geht es ganz schnell. Das weiß jeder, davor hat jeder Angst, die sich mehr oder weniger äußert. Glücklich, wer sich in die Rente retten konnte und noch die "alten Zeiten" erlebt hat. Die Texte von Gabriela Linke und Dieter Vogel sprechen davon.
Um nicht darunter leiden zu müssen, dass der andere wegzieht, und um jederzeit selbst gehen zu können, scheinen viele Menschen auf Bindungen von vorneherein zu verzichten.
Ayman Seyhan und Ida Todisco schreiben von der Vereinzelung und der nicht ganz zu unterdrückenden Sehnsucht nach Wärme und Gemeinschaft. Die Menschen in diesen beiden Erzählungen scheinen sich bloß noch aneinander heranzutasten, aber kaum noch zu berühren, geschweige füreinander Verantwortung zu übernehmen.
Die Geschichten von Klaus Krawczyk und Shayariel schildern, wie privates und berufliches Unglück einander bedingen.
Besonders beeindruckend sind die Call-Center-Beiträge von Brigitte Berger, H.F. Georg, vom Brandstifter. Fühlen Sie sich belästigt von den Anrufen der Call-Center? Dann sehen Sie das Ganze doch mal von der anderen Seite.
In der Titelgeschichte "Plus Minus Null" von Edgar Böhm wird ein Tischler von Arbeitsamt und Zeitarbeitsfirmen buchstäblich in den Tod getrieben.
Einige Autoren erzählen durchaus von der Fürsorge füreinander.
Sylvia Tornau beschreibt eine Helferin, die an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gekommen ist. Die Schülerin in der Geschichte von Matylda Bzdak fragt sich, ob sie wie ihre Mutter einen sozialen Beruf ergreifen soll. Aber was für Leute müsste sie dann betreuen? Menschen wie diesen Rassisten im China-Restaurant? Ob sie das aushalten könnte?
Maren Töbermann meint, dass die Selbstbereicherung von unterbezahlten Pflegekräften für beide Seiten nützlich sein kann. Ab und zu müssen die Regeln des Systems übertreten werden, wenn man sich seine Persönlichkeit bewahren will. Eine ähnliche Atmosphäre von Anarchie erzeugt auch die Putzfrauen-Anekdote von Michael Barth.
Achja, ich vergaß, es gibt sie doch noch: die heile Welt. In der Geschichte von Michael Pick wird sie geschildert. Ein Büroalltag, in dem die größte Sorge die ist, dass die Kaffeetasse weg ist. Ironisch wird hier die Welt der Beamten gezeigt, auf die all die anderen treffen, sobald sie aus ihrer Arbeitswelt hinausgeworfen wurden. Und wie sehr sie dort stören!
Sonja Ruf
Leipzig im Februar 2009