Literatur & Wort
Rezension "Schneewittchen und die sieben Geißlein"
aktualisiert: 14.07.2010
Märchen, neu aufgemischt und zubereitet:
Es war ein Experiment, das der fhl Verlag da gestartet hat: 24 junge Autorinnen und Autoren aus Österreich und Deutschland einzuladen, um ein paar Märchen der Brüder Grimm nachzuerzählen - oder besser: neu zu erzählen. Man kennt sie ja zur Genüge, all die Schneewittchen, Rapunzel und Dornröschen.
Im Grunde könnte man die Grimmsche Ausgabe der deutschen Volksmärchen radikal verschlanken. Auf ein Dutzend Evergreens. Manches Märchen begleitet die Kinder vom Vorlesealter bis zur spaßigen Kino-Verfilmung mit Otto und weiteren sechs Comedians. Die Sieben Geißlein dürfen genauso wenig fehlen wie das Rotkäppchen. Vielleicht kommen noch Hänsel und Gretel vor. Aber schon bei Brüderlein und Schwesterlein wird's eng, bei den Sieben Raben und mittlerweile auch dem Tapferen Schneiderlein ebenfalls. Der Froschkönig schafft's immer noch. Aber die Bremer Stadtmusikanten müssen sich schon anstrengen.
Und so lesen sich auch die 28 neu erzählten Geschichten, die am Wochenende in Leipzig ihre Buchpremiere hatten, durchaus wie ein "Best of ..." der Grimms. Jede und jeder der 24 nahm sich natürlich die Geschichte, die für sie oder ihn den stärksten Bezug zur Gegenwart hat. Denn darum ging es bei der Aufgabe, die die Herausgeberin und Mitautorin Claudia Thoß den Teilnehmern des Projektes stellte: Die alten Erzählungen aus Großmutters Schatzkästlein auf die eigene Gegenwart und die eigenen Erfahrungen umzuschreiben. Mal witzig - etwa wenn Mario Schubert aus Hohenstein-Ernstthal den Rechtsanwalt Reinecke Fuchs zum Verteidiger des Wolfes macht und ihn nachweisen lässt, dass die ganze Geschichte um die Sieben Geißlein erstunken und erlogen ist. Eva Markert aus Ratingen lässt die Prinzessin mit dem Herzkirschenmund keine goldene Kugel in die Luft werfen, die dann in den Brunnen fällt, sondern ihr Handy. Der Frosch ist dann zwar hilfsbereit und wandlungsfähig - aber irgendwie entscheidet er sich dann doch lieber anders.
Schneewittchens Erwachen und überhaupt das Dasein als Prinzessin mit all seinen Komplikationen beschäftigt gleich mehrere Autorinnen. Was auch zu der erstaunlichen Erkenntnis führt, dass es in der Grimmschen Sammlung augenscheinlich echte Mädchen-Märchen gibt. Neben Schneewittchen natürlich Dornröschen und Aschenputtel. Höchste Zeit also, dass mal ein junger Mann wie Thomas Backus aus Cölbe-Schönstadt die Geschichte vom Kopf auf die werktätigen Füße stellt und die Sache aus Sicht der schuftenden Zwerge erzählt, die von der jungen Dame, der sie eine Heimstadt bieten, auch einen gewissen Fleiß erwarten.
Ein wenig an diverse Teufel- und Rumpelstilzchenmärchen erinnert Stefanie Lasthaus' (Karlsruhe) Geschichte "Der Teufel gesacht", in dem sie die Motive all der tollen Väter, Ehemänner, Arbeitgeber bloß legt, die die junge Heldin der Mär erst einmal zu Höchstleistungen anspornen, die mit menschlichen Kräften nicht zu schaffen sind - wie das Spinnen von Stroh zu Gold oder das Braten tausender Currywürste - und dann, wenn das Kind stolz verkündet, es habe die Aufgabe erfüllt, wird die Norm gesteigert – ohne finanziellen Ausgleich. Das ganze moderne Geschäftsverständnis der gewissen "Mehrleister" spiegelt sich in dieser Wurstgeschichte - und in der Gier märchenhafter Könige und Konsorten.
Andreas Flögel aus Dreieich spielt die Schneewittchen-Geschichte als moderne Detektiv-Story durch. Ariane Polakowsky aus Falkenberg lässt in "Ein Haus in den Wäldern finsterster Träume" anklingen, dass Märchenmotive durchaus auch mit den psychischen Kümmernissen des Erwachsenwerdens (und all ihren Abgründen) zu tun haben könnten. Und Claudia Thoß schlüpft dann selbst noch in die Rolle des Wolfes, der ja bereit ist, die ihm auferlegten Regeln der Menschen zu beachten - wenn er denn nur irgendwas zu fressen bekäme. Hier ist dann logischerweise der Jäger der Schurke und das Märchen erweist sich als die Erzählung einer amtlich vollstreckten Tierquälerei.
Es geht bunt durcheinander in den Stilen und Modernisierungen. Mittenhinein mischt sich auch noch ein bisschen Hans Christian Andersen - ein Versuch, der zumindest zeigt, dass man gerade Andersen gar nicht so einfach umschreiben kann. Zumindest nicht, wenn man als Autorin (Daniela Herbst kommt aus Augsburg) zwar in die Rolle der Meerestochter schlüpfen kann, das mit dem Prinzen aber nicht ganz hinbekommt.
Männliche Autoren fühlen sich augenscheinlich mit Gevatter Tod (Bernd Illichmann: "Der Pate mit der Sense") wesentlich wohler. Oder sie nehmen augenzwinkernd das Prinzessinnengehabe der Mädchen auf die Schippe, wie Klaus Krwaczyk in "Die Froschkönigin", einem kleinen Küchenstück, das an Roald Dahl erinnert. Was dann aber wieder ein hübscher Beleg dafür ist, dass in vielen deutschen Märchen ein gewisses Stück menschlicher Erfahrung steckt. Man muss es nur wieder freilegen. Dann wirkt das Märchenbuch nicht mehr so süßlich und fad und "kindgerecht" und bekommt wieder Leben.
(Ralf Julke, 06.07.2010, Leipziger Internet Zeitung)